Topia – keep smiling und stell dir dich selbst in diesem foto vor
Ein Abend mit Text, Musik und Plexiglas von Nora Mansmann und Emilia de Fries.
40-minütige Performance in Weiterentwicklung.
topia – trailer 2021 from filmverleih edf on Vimeo.
Die dritte Welle des Virus flutet Städte, Landkreise und Kommunen, Leugnen wird salonfähig und Distanz zum neuen Normal. Topia ist Mitte Dreißig und steckt mitten im zweiten Lockdown. Sie sagt ich bin eine artifizielle person, meint damit aber ihre Schwester, die ihr gleicht wie ein Ei und unterschiedlicher nicht sein könnte. Topia fühlt sich mit der Welt von Geburt an im Dissens. Ihre Schwester ordnet alles um sich herum mithilfe von Zahlen, Listen und Tabellen. The train leaves a line of breath singen sie vereint im Chor und kaum startet das nächste Zoom-Meeting, geht Zerstreuung auf Play in alle winde in alle weiten des weltweiten internets. Den Stillstand der Pandemie kann ihre Schwester, im Gegensatz zu Topia, sehr genießen, obwohl sie zur Risikogruppe gehört. Topia fühlt sich gezwungen, sich neue Strategien zu überlegen. Wir, die Zuschauenden, sind Voyeur*innen – oder sind es doch die beiden, die uns durch eine Plexiglasscheibe beim Zuschauen zuschauen? Was uns verbindet sind die Stimmen der Welt da draußen: Eine Ärztin, eine Krankenschwester, eine Patientin – und Angela Merkel.
Premiere am 28.05.2021 um 20.30 Uhr
vor dem Hauser / interkulturelles Theaterzentrum Berlin
Schudomastr. 32 / 12055 Berlin
Weitere Aufführungen:
29.05.21, 20.30 Uhr
04.06.21, 20.30 Uhr
05.05.21, 20.30 Uhr
18.06.21, 21.15 Uhr und
19.06.21, 16 Uhr im Rahmen von 48 Stunden Neukölln
30./31.07.21, 21 Uhr
ehemalige Agon Backstube am Haus der Statistik, Mollstraße 4, 10178 Berlin-Mitte
Die Vorstellungen wurden unterstützt von SilentDisco.
TOPIA – keep smiling und stell dir dich selbst in diesem foto vor
lasst uns von vorn anfangen
wann war das wie war das
für mich war das
dieses treffen in der kneipe
wir brauchen bier bier und nochmals bier
ich mag kein bier das weißt du doch
wir wussten
das ist der letzte tag an dem wir noch in ner bar sitzen können
derartige dinge passieren einfach nicht
nicht in deutschland nicht in europa
was soll das
ist doch übertrieben
ich bin jung und gesund
ich will keine maske tragen
ich will feiern gehen
hoffentlich krieg ich’s einfach
dann hab ich’s hinter mir
im homeoffice
gehen die tage dahin
ununterscheidbar
das war schon vorher so
jetzt
gibt es gar keinen ausweg mehr
im internet drehen die leute durch
produzieren noch mehr als sonst
content
auch die künstler*innen
die jetzt noch mehr unbezahlte jobs haben
posten und streamen was das zeug hält
man muss sich eben strategien überlegen
zum überleben
ich hänge auf der couch und schaue youtube-videos
woman who loves horses gets the sweetest surprise in her final days
dog who hasn’t been touched in two years lets someone pet him for the first time
sea lion surfing in asperance, western australia – absolutely epic
snow white comforts autistic boy who had meltdown in disney world
what?!
ich muss weinen
wie kann das coole internet zu so ’ner hölle geworden sein
gleichzeitig über- und unterfordert
hänge ich im algorithmus fest
und säge an meinem eigenen ast
hashtag digitalopfer
ich fühle mich wie ein reißverschluss der klemmt zwischen den immer gleichen gedanken und meinen angstzuständen
zerstreuung
ich fühle mich zerstreut
in alle winde
in alle weiten
des weltweiten internets
ich vermisse berührungen
der lockdown eine wohltat
endlich zeit für kreativität
mal die wohnung ausmisten
leichter gesagt als getan
wenn man gar nicht erst aus dem bett kommt
ich rufe meine schwester an
kleine große schwester
mir geht es schlecht
corona-depression
sie versteht mich nicht
ich find den lockdown eigentlich ganz angenehm
ich muss allein sein um ich selbst zu sein
mit anderen
verliere ich mich schnell
bin so froh dass ich nicht rausgehen muss keine menschen sehen dass die leute abstand halten endlich
du hast halt keine gefühle
du hast kein herz
du brauchst doch niemanden
ich vermisse berührungen
ich traue social media keinen zentimeter
ich werde von social media gefickt
für meine schwester ist es der favourite kommunikationskanal
sie ordnet alles mithilfe von zahlen und listen und tabellen
sie hat ihr leben wahnsinnig gut im griff
bist du nicht einsam? sie kann mit der frage gar nichts anfangen
sie ist halt anders
ich vermisse berührungen
ich fühle mich wie gelähmt paralysiert
du bist aber nicht gelähmt du arsch hör auf zu heulen
du fühlst dich wie gelähmt aber
du musst nur aufstehen und rausgehen und zu diesem felsen fahren und da raufklettern um zu merken:
du bist nicht gelähmt
du kannst da raufklettern
ich gehe joggen und dann mache ich noch etwas yoga das ist gut für meine mental health
danach geht es mir immer noch scheiße
der nächste zoom-call
mein therapeut sagt lesen sie mal sylvia plath
anders
immer hieß es
ich bin halt anders
sie ist halt anders
anders als was? als wer?
was ist das überhaupt anders?
und was ist dann das gegenteil? gleich?
sie kommt jedenfalls mit der situation viel besser klar als ich
im internet drehen die leute durch
ich glaub ich bin schon abhängig geworden davon
der lockdown hat auch was gutes
für die umwelt zum beispiel
die schadstoffbelastung in der luft ist zurückgegangen
es gibt weniger verkehrstote
außerdem
es gibt sowieso zu viele menschen auf der welt
der mensch ist das virus
ich hänge im algorithmus fest
du musst dir eben strategien überlegen
ich hab das gefühl dass mein ganzes leben im moment aus strategien besteht
ich hänge im algorithmus fest
auf der suche nach emotionen
weil ich selbst so wenig spüren kann
ich brauche die ablenkung
die ablenkung wird mir zu viel
ich bin so
müde
sehr langsam
fällt
ein blatt
von meiner pflanze
auf dem schrank
auf den boden
ich bin eine artifizielle person
spielregeln an die ich mich halten muss
um ein leben führen zu können von dem ich hoffe
ich kann es irgendwann ertragen
keep smiling und
stell dir dich selbst in diesem foto vor
ich bin immer strahlender und künstlicher geworden in letzter zeit
ich die ich die pflicht habe glücklich und erfolgreich zu sein
ich bin doch auch anders
ich hab doch auch probleme
sogar mehr probleme als sie
meine schwester im betreuten wohnen
schreibt ihr zweites buch
ich bin zu hause allein
ich kann nicht mehr
kann mich jetzt auch mal jemand betreuen?!
vielleicht sollte ich versuchen schwanger zu werden
ein kind bekommen
dann hätte ich struktur
dann hätte ich einen sinn
mein leben
hätte einen sinn außer mir
dann bräuchte ich den nicht immer wieder neu zu suchen diesen scheiß sinn
oder social freezing
im internet drehen die leute durch
der mensch ist das virus
querdenker nazis attila hildmann
und jetzt noch dieser fernsehkommissar
wo hört realität auf wo fängt idiologie an
idiotie
ich drehe durch im internet
ich lese zu viel sehe zu viel höre zu viel die darstellung von etwas wird dein abbild der realität
how did this cool internet become hell
ich bin müde so müde jetzt
sind wir alle im homeoffice
die tage gehen dahin
unproduktiv
ununterscheidbar
das war schon vorher so
nur jetzt
gibt es gar keinen ausweg mehr
die zeit vergeht um mich herum
bewegt sich fort
ich nicht
das leben meiner eltern hat mit dem krieg begonnen
mein leben endet mit der pandemie
und ich muss immer wieder suchen
diesen scheiß sinn
immer wieder neu
die diktatorin in mir zu einer diplomatin erziehen
von vorn anfangen
wie soll das gehen
und wann
nach mehr als einem jahr noch immer im lockdown
ein ende ist nicht abzusehen
wie erhalte ich mir wie erhalten wir uns
einen funken hoffnung
utopie
Text von Nora Mansmann geschrieben für das Projekt TOPIA. Keep smiling und stell dir dich selbst in diesem foto vor von Nora Mansmann und Emilia de Fries. Eine Produktion der Dramatischen Republik Berlin, April – Juli 2021.